20. April 2020
Produktivität im Home Office
Gestern erreichte mich eine Mail in der behauptet wurde, dass Mitarbeiter, die keine Home-Office Erfahrung haben, eine Produktivität von ca 65 - 75 % haben. Daraus wurde dann geschlossen, dass diese Mitarbeiter dringend Schulung in Selbst- und Zeitmanagement brauchen.
Abgesehen davon, dass es keinen Hinweis darauf gab, woher die Zahlen stammen, ist die Frage, ob diese Mitarbeiter im Büro produktiver sind, wie Produktivität gemessen wird und ob die überhaupt höher sein kann. Als Senior Solution und Enterprise Architect habe ich wiederholt entsprechende Auswertungen für meine Auftraggeber machen dürfen, z.B. um die Service-Kosten zu kalkulieren. Allgemein nennt man das Deckungsbeitragsrechnung. Die folgenden Aussagen basieren auf Auswertungen aus Arbeitszeitrapports aus unterschiedlichen Branchen zugrunde, in denen Arbeit im Home Office grundsätzlich möglich ist, die aber zu dem Zeitpunkt nur in geringem Maß Home Office Anteile hatten.
Bei der Produktivitätsanalyse wurden die Arbeitsstunden zugrunde gelegt, die als verrechenbare Arbeitszeit gewertet wurden. Als verrechenbar bewertet wurden alle Arbeiten, die direkt einem Endkunden in Rechnung gestellt werden konnten oder die im Sinne einer internen Verrechnung einem Auftraggeber auf seine Kostenstelle verrechnet wurden. Als nicht verrechenbare Arbeitszeit galten alle Zeiten, in denen die Mitarbeitenden beschäftigt waren mit
- dem Bearbeiten des allgemeinen Mailverkehrs, also Löschen von irrelevanten Mails, Mailablage, Bereinigen der Mailboxen etc.,
- der Aufnahme aktueller Informationen zu ihrem Arbeitsbereich, z.B. relevante Newsletter lesen, Bugreports zu eingesetzter Software lesen und hinsichtlich Relevanz beurteilen,
- der Weiterbildung durch Lesen von Fachliteratur, Teilnahme an Präsenz- und Online-Schulung und e-Learning Programmen,
- der Erledigung allgemeiner administrativer Tätigkeiten, z.B. auch die Arbeitszeitrapportierung.
Das Ergebnis dieser Analysen war allgemein, dass der Anteil der produktiven Arbeit bei ca. 75 % liegt und sich auch kaum steigern läßt. Mit den immer stärker verbreiteten Mitteln der elektronischen Kommunikation und der zunehmenden Erwartungshaltung insbesondere bei Auftraggebern und Vorgesetzten, dass Anfragen sofort erledigt werden (permanente Erreichbarkeit und Unterbrechbarkeit), ist auch bei 100 % Präsenz im Büro die Produktivität gesunken. Jede Unterbrechung durch E-Mail, Telefon und Instant Messenger zur Folge hat, dass Mitarbeitende aus ihrem normalen Arbeitsfluss herausgerissen werden und anschließend eine gewisse Zeit benötigen, um ihn mit derselben Konzentration wieder aufzunehmen. Somit sind die Zahlen, wenn sie denn einer nachvoilziehbaren Quelle entstammen, nicht wirklich deutlich schlechter als bei 100 % Präsenz im Büro.
Aus eigener Erfahrung mit unterschiedlichen Auftraggebern kann ich sagen, dass Produktivitätsabfall im Home Office mehr damit zu tun hat, ob der Auftraggeber wirklich delegieren kann, d.h. nicht nur eine Aufgabe überträgt und dann regelmäßig per Mail, Instant Message oder Telefon den Stand abfragt, sondern auch die Verantwortung frü die Erledigung an die Mitarbeitenden delegiert. Von daher ist der Schulungsbedarf eher bei den Führungskräften und Auftraggebern, mit dem Gefühl des Kontrollverlusts umzugehen.